William Gibsons Rechengranaten

Und plötzlich hält sie es in der Hand: schwer, kompakt, mit Rillen, Schlitzen und Noppen, damit man es besser greifen kann. In den Schlitzen winzige Schieberchen. Kleine, runde Sichtfenster mit weißen Ziffern darin. Oben drauf etwas, das aussieht wie die Kurbel einer Pfeffermühle in der Version eines Kleinwaffenherstellers.
“Was ist das?”

Nachzulesen ist dieser Text in William Gibsons Buch Mustererkennung (Pattern Recognition, 2003). Wir alle kennen den Begriff  Cyberspace, den der Science-Fiction-Autor Gibson in seinem Roman Neuromancer (1984) geprägt hatte. In Mustererkennung schreibt er weiter:

“Ein Präzisionsgerät”, sagt der Schwarze, “das Rechenvorgänge mechanisch durchführt, ohne Strom oder elektronische Komponenten. Das Gefühl, wenn man es bedient, läßt sich am ehesten mit dem Aufziehen einer klassischen Fünfunddreißig-Millimeter-Kamera vergleichen. Es ist die kleinste mechanische Rechenmaschine aller Zeiten.”

Gibson beschreibt hier eine österreichische Erfindung, die CURTA, ein Meisterwerk der Präzisionstechnik. Wie kann es kommen, dass heute nur wenige davon gehört haben?

CURTA I, CURTA II Foto: Stockinger

Am 26. Januar waren es 110 Jahre her, dass sein Erfinder Curt Herzstark als Sohn des Rechenmaschinenherstellers Samuel Jakob Herzstark 1902 in Wien geboren wurde.  Früh schon interessierte sich der kleine Curt für die Mechanik der Rechenmaschinen. Nach der Matura  absolvierte er  im elterlichen Betrieb eine Lehre in Feinmechanik und Maschinenbau. Ab 1928 begann er, die Idee von einer Rechenmaschine zu entwickeln, die leicht in der Hand liegt. Ab 1939 wurden ihm die ersten Patente erteilt – die CURTA war erfunden!

Doch dann kam der 2. Weltkrieg dazwischen, Curt Herzstark wurde 1943 von den Nationalsozialisten verhaftet und landete schließlich im Konzentrationslager Buchenwald. Dort wurde man auf seine technischen Talente aufmerksam und er durfte seine Entwurfsarbeiten an der CURTA fortsetzen. Nach der Befreiung 1945 kam er über Umwegen mit seinen CURTA-Entwürfen wieder nach Wien zurück. Doch es war ihm ein typisches österreichisches Erfinderschicksal beschieden. Er fand in Österreich keine Geldgeber zur Umsetzung. 1946 wurde er auf Vermittlung des österreichischen Finanzministers nach Liechtenstein eingeladen. Liechtenstein hatte sich damals international nach Fachleuten und Erfindern umgesehen.

1948 ging die erste CURTA (CURTA I) in Serienproduktion. Ab 1954 folgte eine etwas größere und damit leistungsfähigere CURTA II.   Aber auch in Liechtenstein war nicht alles eitel Wonne – die Erzeuger-  und Vertreiberfirma Contina AG hatte ihm schlecht mitgespielt. Wie er selbst sagte, verkaufte sich die CURTA praktisch von selbst, von Vertrieb konnte keine Rede sein. Der von Fachleuten prognostizierte weltweite Bedarf von drei bis vier Millionen CURTAS wurde nicht ansatzweise erreicht. Als die Produktion 1972 gestoppt wurde, waren gerade einmal 150.000 Stück verkauft.

Am 27. Oktober 1988 ging in Liechtenstein dieses große Erfinderleben zu Ende.

Die CURTA beherrschte nicht nur die vier Grundrechnungsarbeiten, man konnte mit ihr auch Wurzelziehen, Polynome und Potenzreihen berechnen. Sogar für Rallye-Beifahrer war sie unabkömmlich!

Da die CURTAS in großer Stückzahl produziert wurden, kann man immer noch gelegentlich ein Exemplar über Online-Auktionshäuser erstehen.

Ich treffe gelegentlich noch Menschen, die eine CURTA noch in ihrem eigenen Büroalltag verwendet hatte. Daher auch meine Frage: Wer kennt jemand, der mit der CURTA noch gearbeitet hat und darüber etwas zu erzählen weiß?

Quellen:

Buchempfehlung:
Curt Herzstark – Kein Geschenk für den Führer – Schicksal eines begnadeten Erfinders, Ch. Holub, U. Schröder, B. Schröder, H. Joss, Mai 2005.

 

 

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